PhilosophiePhysik

Kann die Philosophie Mathilde Ludendorffs vor der heutigen Wissenschaft bestehen?

Mathilde Ludendorff erhob den Anspruch, mit ihrer Gotterkenntnis im Einklang mit den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu sein. Dies schließt nicht aus, daß einzelne Beispiele, die sie zur Verdeutlichung ihrer philosophischen Aussagen heranzieht, aus heutiger Sicht falsch sind. Grundlegende philosophische Aussagen dürfen jedoch an keiner Stelle im Widerspruch zum gesicherten Wissen der Naturwissenschaften stehen. Kann dieser Anspruch auch heute noch, Jahrzehnte nach der Erstauflage der philosophischen Werke, aufrecht erhalten werden?

Von NASA/JPL – http://photojournal.jpl.nasa.gov/catalog/PIA03153, Gemeinfrei, Link

Prof. Gerold Adam (1933 – 1996), Biophysiker, veröffentlichte unter den Pseudonymen Hermin Leupold und Wilhelm Schäfler zahlreiche Aufsätze zu diesem Thema in der Zeitschrift „Die Deutsche Volkshochschule“. Diese sind in dem Sammelband „Philosophische Erkenntnis in ihrer Beziehung zur Naturwissenschaft“ in Buchform erschienen, aus dem der folgende Auszug entnommen ist (S. 56-64).

„(…)

Überblick über die Philosophie Mathilde Ludendorffs

Diese zweite Seite der Wirklichkeit ist es nun, die von der Philosophie in den Vordergrund gerückt wird.

Während die erste Seite, die rational erfaßbare Seite der Wirklichkeit, „die Erscheinung“ betrifft, entspricht die zweite Seite dem „Wesen der Erscheinungswelt“. Da sie jenseits der Vernunfteinsicht liegt, sagt man auch, das sei das Reich der Metaphysik oder der Transzendenz; und meint damit, daß wir die transzendenten Aspekte von Wahrheit, Güte und Schönheit aus der Erscheinungswelt und dabei auch aus menschlichen Taten leuchten sehen können. Weil die Erlebnisse des Schönen, Wahren und Guten häufig von genialen Schaffenden in Kunstwerken gestaltet wurden, hat Mathilde Ludendorff diese Seite der Wirklichkeit auch „das Reich der Genialität“ genannt. Das tat sie vor allem in ihren ersten Werken, um das von den Weltreligionen bereits mit ganz anderem Sinn belegte Wort „Gott“ zu vermeiden. Aber Metaphysik, Transzendenz, Genialität sind Fremdworte, bei denen wenig Wirklichkeit mitschwingt. So ist sie bald auf diesen Wortstamm zurückgekehrt und spricht vom „göttlichen Wesen der Erscheinungswelt“ oder von dem „Göttlichen“, aber legt eindringlich klar, daß dabei keinesfalls ein persönlicher Gott wie in den Weltreligionen, sondern nur die oben umrissene, erlebnismäßig faßbare Seite der Wirklichkeit gemeint ist.

Es ist der Sinn des Menschenlebens, in freier Entscheidung sein Wollen mehr und mehr auf die in der Menschenseele auftauchenden Wünsche zum Wahren, Guten und Schönen hin auszurichten. Damit wenden wir uns nun der „Schöpfungsgeschichte“ (3) zu.

Sinn des Weltallwerdens

Sinn des Weltallwerdens war die Entstehung eines bewußten Lebewesens, das in eigener Entscheidung das Göttliche erleben kann. So ist aus einem Jenseits von Raum und Zeit, das uns nicht vorstellbar ist, das Göttliche in Erscheinung getreten. Wie das Werk „Schöpfungsgeschichte“ diesen Vorgang beschreibt, ist das Göttliche schrittweise in die Erscheinungsformen Raum und Zeit und Ursache und Wirkung eingetreten.

Aus dem Jenseits, oder nach unseren heutigen Begriffen kann man sagen, aus dem „Nichts“, ist es zunächst in eine Vorstufe eingetreten, den „Äther“, aus dem sich gleichzeitig Urstoff, das heißt Materie, und seine Bewegung im Raum herausgebildet hat.

In gewaltigen Schritten hat sich dann das Weltall weiterentwickelt, die Materie zu Sternensystemen zusammengeballt, die Sterne entwickelten sich; aus den Gas- und Staubmassen eines explodierenden Sternes ballte sich die Sonne und ihr Planetensystem zusammen und auf einem dieser Planeten entstand wiederum stufenweise eine Zustandsform der Materie, die man Leben nennt. Diese unbegreiflichen Materieansammlungen vermehrten sich, wuchsen und entwickelten sich schließlich zu einem Säugetier, das in seiner knöchernen Hirnschale das komplexeste Gebilde des Weltalls trägt, das „menschliche Gehirn“, gebildet aus –zig Milliarden von Nervenzellen und vielen Billionen von Verknüpfungen, das heißt auf kleinstem Raum Verwicklungen und Verknüpfungen von geradezu astronomischer Vielzahl von Elementen in gegenseitiger Wechselwirkung.

Netzwerk aus Nerven im Gehirn

Man vergleiche diese Komplexität mit der von Hunderten oder Tausenden von Nervenzellen in einer Schnecke oder einem Insekt. Diese einfachen Lebewesen haben bereits eine Fülle von sinnvollen, lebenserhaltenden Verhaltensweisen. Mit der Zahl der Nervenzellen steigt aber die Zahl der möglichen Reaktionsweisen stark überproportional an; das war wohl notwendig, damit etwas ganz Neues entstehen konnte: Bewußtsein und spontanes Erleben des Göttlichen.

Göttliches Erleben kann frei gewählt werden, und frei ist der Mensch, sein Leben dahingehend zu entwickeln oder es als Hedonist, das heißt ausgerichtet auf Lust und Genuß, zu verbringen.

Nach dieser Philosophie besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Sinn des Menschenlebens und dem Sinn oder Ziel des Weltwerdens. Der Sinn des Menschenlebens wird darin gesehen, daß dem Menschen die Freiheit gegeben ist, vor dem Tode das Göttliche bewußt zu erleben und seine eigene Seele zum Einklang mit dem Göttlichen umzuschaffen.

Der kühne Grundgedanke der Philosophie der „Schöpfungsgeschichte“ ist nun, daß die Evolution dem zielklaren Willen zur Bewußtheit, also zu einem bewußten Lebewesen dient. Und nicht nur das: Auch der Sinn oder das Ziel der Weltentstehung ist dieser Wille zur Bewußtheit. Wobei der Begriff „Wille“ natürlich nur in einem übertragenen Sinne gemeint sein kann, und nur in Ermangelung eines besseren Wortes ein Terminus aus der menschlichen Seelenlehre verwendet wurde. Keinesfalls sollen damit dem Göttlichen menschliche Seelenregungen zugeschriebenen werden.

(…)

Was sagen die Naturwissenschaften dazu; ist die philosophische Aussage Unsinn, Spekulation?

Nun, zunächst war die Auffassung ganz neuartig, die Evolution der Welt mit der des Lebens in einem Zusammenhang zu sehen. Evolution der Lebenswelt aus einfachen Formen erkannten Lamarck 1809, Darwin 1859, Haeckel, Weismann und Pflüger. Die Entstehung des Lebens wurde noch ausgeklammert, es gab nur einige Spekulationen dazu. Neue Erkenntnisse hierfür brachten erst Mathilde Ludendorff mit ihrer „Schöpfungsgeschichte, 1924 Oparin (im Westen unbekannt), 1928 Haldane (mit einer ganz kurzen Arbeit). Dann lernte man in der Geophysik und der Protobiologie, daß die Uratmosphäre reduziert war. Man kann z.B. die Entwicklung der Erdatmosphäre nicht getrennt von der Lebenswelt betrachten und umgekehrt.

Die Uratmosphäre enthielt 0,1 % Sauerstoff (O2), dieser absorbierte die kosmische Strahlung, das heißt die Strahlung der Sonne (und hier vor allem die UV-Strahlung) im Bereich der Wellenlängen von 2600-2800 Å, dem Bereich der Absorption der Eiweiße und Nukleinsäuren. Damit waren diese vor der unablässigen Zerstörung geschützt. Die Entwicklung des Atmosphärischen Sauerstoffs (O2) erfolgte durch Algen und Pflanzen.

Dies ist eines der ersten Beispiele für die Untrennbarkeit von anorganischer und lebendiger Entwicklung.

Und wie haben sich die Vorstellungen von der Evolution des Weltalls entwickelt?

  • Giordano Bruno (1548-1600), der bedeutendste Philosoph der italienischen Renaissance, vollzog die Trennung von Philosophie und Theologie! Er erkannte, ausgehend von Kopernikus, die „Vielheit der Welten“, sieht die „Beseeltheit der Welten“; er schreibt: „Seele ist das schöpferische Gestaltungsprinzip der Welt und aller Einzeldinge.“
  • Immanuel Kant (1724-1804) erkennt intuitiv die Spiralnebel als „Sterneninseln“ im Weltraum, der naturwissenschaftliche Beweis fehlt aber zu seiner Zeit noch.
  • Erst 1924 wird nachgewiesen, daß die Intuitionen von Bruno und Kant zutreffen (Edwin Powell Hubble, 1889-1953)
  • Erst 1928 kann naturwissenschaftlich zwingend auf einen Anfang des Weltalls geschlossen werden! Hubble entdeckt die Fluchtbewegung der Galaxien, kann sie vermessen und aus der Fluchtgeschwindigkeit den Zeitpunkt ihrer Konzentration auf einen Punkt schließen.

Also noch vor diesen aufregenden wissenschaftlichen Neuentwicklungen (Entstehung des Lebens, Entstehung der Welt) finden wir 1923 die Philosophie der Schöpfungsgeschichte.

Von der Gotterkenntnis M. Ludendorffs her wurde die gesamte (!) Entwicklungsgeschichte des Kosmos einschließlich die Entwicklung des Lebendigen als eine Einheit angesehen. Heute kommt die Naturwissenschaft mehr und mehr auch zu dieser Auffassung (H. v. Ditfurth, Hoyle).

  • Die Auffassung von der Kulturentwicklung als Fortsetzung der natürlichen Entwicklungsgeschichte gibt es erst in neuester Zeit (vgl. Carsten Bresch).

All das wurde vor siebzig Jahren von Mathilde Ludendorff in einem einzigen philosophischen Gedankengebäude zusammenfassend dargelegt: die ganze Entwicklung vom Urknall bis hin zum Menschen und die Weiterentwicklung in der Form der Kulturen (s. auch 4).

Hybris – Überhebung – Vermessenheit?

Es bleibt eine bestürzende Vorstellung: das Weltall mit Milliarden von Sternsystemen, Galaxien, und diese wiederum mit Milliarden von Sternen, all dieser Aufwand nur für dieses Säugetier?

Andromeda-Nebel, mit mehr als 100 Billionen Sternen.

Da hilft auch die Einsicht nicht viel weiter, daß es die komplexeste Struktur und Funktion im ganzen Weltall darstellt. Die Zahl der Nervenverknüpfungen in einem einzigen Gehirn ist vergleichbar mit der Gesamtzahl der Sterne im sichtbaren Universum von 1015 – 1018. In jüngster Zeit – seit etwa zwanzig Jahren – hat die Kosmologie, Astrophysik und Elementarteilchenphysik zur Beleuchtung dieser Situation wesentlich beigetragen, und zwar durch das Anthropische Prinzip der Kosmologie (5): Dieses hatte seinen Ursprung in der alltäglichen wissenschaftlichen Arbeit als eine sehr hilfreiche Arbeitshypothese, ist aber andererseits philosophisch sehr interessant, unabhängig von seinem ungeklärten erkenntnistheoretischen Status in der Astrophysik.

Schlußfolgerung

Wir haben uns im Zusammenhang mit einer Reihe von grundlegenden Problemen der frühen Schöpfungsgeschichte mit dem Wechselspiel von philosophischer (überwiegend intuitiver, ganzheitlicher) Aussage und naturwissenschaftlicher Aussage befaßt.

Beide geben keinesfalls identische Aussagen: Die Naturwissenschaft ordnet die Erscheinungen in Raum, Zeit und Ursache/Wirkungsgesetzmäßigkeiten ein, die Philosophie versucht eine andere Seite der Wirklichkeit zu erfassen, das Wesen der Erscheinungen, das in den Erlebnisformen Schönheit, Wahrheit, Güte oder ähnlich erfaßt werden kann.

Nun haben sich die Naturwissenschaften an die Grenzen der möglicher Vernunfterkenntnis hinbewegt, zu so kleinen oder so großen Erscheinungen, daß die Denkformen der Vernunft nicht mehr genau passen. Hier kommt man mit mathematischen Modellen noch etwas weiter, das Ende ist jedoch abzusehen.

Genau mit solchen Erscheinungen haben wir uns befaßt. Das Überraschende war nun, daß

  1. in diesen Bereichen sich Naturwissenschaft und Philosophie eng miteinander verschränken, das heißt in eine sehr enge Berührung kommen, und
  2. daß die Philosophie siebzig Jahre vor dem Vordringen der der Naturwissenschaft in diesem Erkenntnisbereiche Aussagen getroffen hat, die sich als unglaublich richtige Vorhersagen erwiesen haben. Es ist für einen rational denkenden Menschen kaum glaublich, daß man so tiefgehende Einsichten gleichsam „erraten“ kann. Für mich hat das nachstehende Schlußfolgerungen erbracht:
  3. In der detaillierten wissenschaftlichen Arbeit können die philosophischen Vorhersagen als wertvolle Arbeitshypothesen angewendet werden.
  4. Das Vertrauen in die Richtigkeit auch weitergehender Aussagen zu Sinn und Wert von Seiten der Philosophie ist bei mir enorm gestiegen.

(…)

Quellen:

Hermin Leupold (2001): Philosophische Erkenntnis in ihrer Beziehung zur Naturwissenschaft. Aufsätze zur geschichtlichen Entwicklung der Erkenntnistheorie, zur Evolution des Weltalls und des Bewußtseins. – Hrsg.: Die Deutsche Volkshochschule e.V., 23845 Bühnsdorf. ISBN 3-00-007494-5. 329 Seiten.

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